Vor einigen Wochen bekam ich bekanntermaßen als Pilger einen Zeitschriften-Artikel zu lesen: „Pilger-an-unheiligen-Orten“ aus der Zeitschrift Geist und Leben. Darin setzt sich der anglikanische Priester Raymond Pelly aus Wellington (NZ) mit dem Schrecken des Holocausts in der Zeit des Nationalsozialismus auseinander. Er „pilgerte“ zwischen 1995 und 2008 zu verschiedenen Vernichtungslagern der Nationalsozialisten, unter anderem Ausschwitz.
Zu Beginn schreibt er „Mein „Pilgerweg „an unheilige Orte“ begann in der Bibliothek der Universität von Cambridge in den frühen 1970er Jahren. Zufällig fiel mir ein Buch über den Frankfurter Auschwitz-Prozess von 1963/64 in die Hände. Mit zunehmendem Schrecken las ich Augenzeugenberichte, die unter anderem davon erzählten, wie Kleinkinder, alle Juden, abgestochen oder lebendig ins Feuer geworfen wurden.“
Einen zusätzlichen Impuls bot sich ihm in einem Artikel „Zukunft aus dem Gedächtnis des Leidens“ von Johann Baptist Metz aus dem Jahr 1972. Für ihn bedeutete das den Aufruf, sich dem Schrecken der Vergangenheit zu stellen und an einer menschlichen, freien Gesellschaft zu arbeiten. Er zitiert Metz: ´Wir können Auschwitz nur dann wirklich sehen, wenn wir von der ‚gefährlichen Erinnerung‘ an das Leben, den Tod und die Auferstehung Jesu Christi, ausgehen. Diese lebendige Erinnerung Jesu ermöglicht uns, nicht nur die Vergangenheit so wahrzunehmen, wie sie wirklich war; sie wendet sich auch gegen das schlichte Vergessen in einer technokratischen Gesellschaft, die allzu leicht vergangenes und gegenwärtiges Leiden vergisst.´
Raymond Pelly beschrieb in seinem Pilgerbuch, das er in seinen Reisen anfertigte, wie er versuchte sich der harten Realität dessen auszusetzen, was wirklich stattgefunden hatte. Dies nennt er ´die Schreie hören‘. „Wir müssen die Schreie der Opfer hören lernen, bevor wir die Stimme Gottes hören und sein Angesicht sehen. Dabei blicken wir auf Christus, der unsere Taubheit heilen, unsere Sicht wiederherstellen und uns wieder Stimme geben kann.“
In der folgenden Betrachtung will ich versuchen, dem nachzuspüren – ohne die Möglichkeiten zu besitzen, real vor Ort sein. Dem Leid nachzuspüren – die Schreie zu hören; und das möglichst nicht aus dem Verstand heraus, sondern mit dem Herz. Hierzu fielen mir drei musikalische Wege ein, die dazu verhelfen könnten.
1. Henryk Górecki – Sinfonie op 36 `Sinfonie der Klagelieder`Nr. 3
Der 2010 verstorbene polnische Komponist schrieb diese Sinfonie für Sopran und Orchester im Jahre 1976. Der Text des zweiten Satzes, den ich ausgewählt habe, ist ein Gebet einer 18jährigen jungen Frau, das an der Wand ihrer Zelle im Keller des Gestapo-Hauptquartiers in Zakopane gefunden wurde. Das Gebet ist eine ekstatische Anrufung in der Not und wird vom Sopran in überirdisch schönen Melodiebögen hinausgerufen: „De profundis exclamavi“ – „Aus tiefster Not schreie ich zu dir“. Darunter liegen Klänge der Streicher, wie ein sanfter Teppich, auf dem sich der Rufende geborgen fühlt – seine einzige Rettung in der Todesangst. Die Musik besteht aus einer Volksmelodie und einem Melodiefragment. Am Ende singt die Sopranistin zweimal die ersten beiden Verse des polnischen Ave Maria.
Górecki erinnerte sich beim Komponieren an den Besuch in Ausschwitz 1945 als er 12 Jahre alt war „Ich hatte den Eindruck, dass die Hütten noch warm waren … die Wege an sich und die Bilder haben mich niemals verlassen – die Wege bestanden aus Knochen, die wie Ziegel den Boden bedeckten. Wie sollten wir Jungen darauf gehen? Das ist kein Sand. Wir gingen auf menschlichen Wesen...das war meine Welt. Der einzige Weg sich diesem Schrecken auszusetzen, zu vergessen – aber das würde ich niemals können – war durch Musik.“
2. Vladimír Godár - Stàlà Matka (Stabat Mater)
Das Leiden Jesu auf dem Kreuzweg und die Trauer seiner Mutter Maria kennen wir aus dem Evangelium der Bibel und insbesondere vom Karfreitag in der Liturgie der christlichen Kirchen. Zahlreiche Komponisten vertonten die Szene, als die Mutter Maria um Jesus am Kreuz weinte. Das wird seit einigen Jahrhunderten in Gebets-, Gedicht- und Liedform beschrieben. Das “Stabat Mater” empfindet das Leid der Mutter Maria angesichts ihres gekreuzigten Sohnes auf Golgota in einer geistlichen Betrachtung nach. Es beinhaltet in den ersten Strophen die Erzählung des Leides, bevor es über die Bereitschaft zum „Mit-Leiden“ in den Ausblick auf die eigene Erlösung mündet.
Stimmung des Stabat Maters
Es stand die Mutter voll Kummer beim Kreuz, tränenreich, während dort ihr Sohn hing. Ihre klagende Seele, betrübt und schmerzvoll, durchbohrte ein Schwert.
Oh, wie traurig und niedergeschlagen war jene gesegnete Mutter des Einziggeborenen, welche wehklagte und litt, die fromme Mutter, als sie die Qualen ihres gepriesenen Sohnes sah.
3. Dietrich Bonhoeffer – Von guten Mächten treu und still umgeben.
Das Gedicht " Von guten Mächten treu und still umgeben" ist ein geistliches Gedicht des evangelischen Theologen und NS-Widerstandskämpfers Dietrich Bonhoeffer. Er verfasste es im Dezember 1944 in der Gestapohaft – wie die oben erwähnte 18 jährige junge Frau. Am 09. April 1945 wurde Dietrich Bonhoeffer durch die SS ermordet, hingerichtet durch den Strang. Dieses Lied ist kein Klagelied, im Gegenteil strahlt es hohe innere Glaubenssicherheit, Zuversicht und Trost aus:
Von guten Mächten treu und still umgeben, behütet und getröstet wunderbar, so will ich diese Tage mit euch leben und mit euch gehen in ein neues Jahr.
Noch will das alte unsre Herzen quälen, noch drückt uns böser Tage schwere Last. Ach Herr, gib unsern aufgeschreckten Seelen das Heil, für das du uns geschaffen hast.
Und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand, so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern aus deiner guten und geliebten Hand.
Doch willst du uns noch einmal Freude schenken an dieser Welt und ihrer Sonne Glanz, dann wolln wir des Vergangenen gedenken, und dann gehört dir unser Leben ganz.
…….
Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist bei uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag
Zur Betrachtung
Die folgenden Bilder und die Musik verlangen im Nachspüren und Hören Hingabe und Offenheit. Vielleicht kann dies dahin wirken, dass sich unsere Seele reinigt bis die Last im Dasein abfällt. Die Last wird damit nicht aus der Welt sein, aber wir können neue Kraft schöpfen, um ihr am folgenden Tag wieder zu begegnen.
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Psalm 51
Gott, sei mir gnädig nach deiner Huld.
Erschaffe mir, Gott, ein reines Herz,
und gib mir einen neuen, beständigen Geist!
Verwirf mich nicht von deinem Angesicht,
und nimm deinen heiligen Geist nicht von mir!
Mach mich wieder froh mit deinem Heil.
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